Polio-Impfung: Darum ist sie noch immer wichtig
Gegen Polio(myelitis) oder Kinderlähmung, wie die Erkrankung auch genannt wird, werden Kinder in Deutschland entsprechend der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) noch immer geimpft. Doch gibt es die Kinderlähmung überhaupt noch? Tatsächlich ist die Kinderlähmung bei uns fast nicht mehr bekannt. Selbst die meisten Ärzte haben noch nie einen Polioerkrankten gesehen.
Seit dem Jahr 2002 gilt ganz Europa als poliofrei. Auch in vielen anderen Ländern zirkuliert der Erreger, das Poliovirus, nicht mehr dauerhaft in der Bevölkerung. Grund dafür sind umfassende und jahrzehntelange Impfprogramme. Die flächendeckende Immunität bewirkt, dass sich das Virus nicht mehr ausbreiten kann.
Warum heißt die Krankheit Kinderlähmung?
Auslöser der Poliomyelitis oder Kinderlähmung ist das Poliovirus. Es wird vor allem im Stuhl ausgeschieden und überwiegend durch Schmierinfektion übertragen, seltener durch Tröpfcheninfektion (Husten, Niesen). Durch nicht oder schlecht gewaschene Hände nach dem Stuhlgang oder durch verschmutztes Trinkwasser, sowie auch über verunreinigte rohe Lebensmittel (Muscheln, Salate, Obst, Gemüse), können auch andere Personen angesteckt werden. Frühestens nach 3, spätestens nach 35 Tagen (Inkubationszeit) bricht die Krankheit aus. Das Virus befällt u.a. die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks. Die meisten Infizierten (> 95%) bekommen davon aber nichts mit, sie haben keine oder nur sehr milde Symptome, z. B. Fieber, Hals- und Kopfschmerzen. Doch bei jedem 100. bis 1.000. Infizierten kann es zu bleibenden Lähmungen der Arm- oder Beinmuskulatur oder auch der Sprech-, Schluck- oder Atemmuskulatur kommen. Schlimmstenfalls kann das auch zum Tod führen.
---
Die Poliomyelitis ist schon seit vielen Jahrhunderten bekannt. Da hauptsächlich Kinder erkrankten und von Lähmungen betroffen waren, wurde im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Spinale Kinderlähmung“ eingeführt. Erst 1884 fand man heraus, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelt. Zu dieser Zeit gab es regelmäßig wiederkehrenden Polio-Epidemien – viele Kinder erkrankten und erlitten Lähmungen oder starben. Ab Anfang der 1960er Jahre gab es einen Impfstoff, der gut wirksam war und auf breiter Basis eingesetzt wurde. Auch in Deutschland bekamen Kinder bis 1997 die „Schluckimpfung“, bei der eine Lösung mit vermehrungsfähigen, aber abgeschwächten Polioviren auf einen Zuckerwürfel getropft und geschluckt wurden. Da das Impfvirus den gleichen Weg durch den Körper nahm wie das Wildvirus (Aufnahme über den Mund), war die Schutzwirkung sehr gut. Allerdings kam es vor, dass Kinder durch die Impfung an der Kinderlähmung erkrankten.
Eine Auffrischung der Polio-Impfung im Erwachsenenalter benötigt nur, wer in ein Land reist, in dem Polio vorkommt.
Polio-Impfung heute – sicher, wirksam und immer noch wichtig?
Inzwischen wird in Deutschland ausschließlich ein Totimpfstoff verwendet, der, wie viele andere Impfstoffe auch, in den Muskel gespritzt wird. Bei diesem ist die Gefahr gebannt, durch die Impfung zu erkranken. Gleichzeitig vermittelt er sehr guten Schutz, wenn er, wie von der STIKO empfohlen, viermal verabreicht wird.
Die Polio-Impfung ist im bewährten 5- und 6-fach Impfstoff enthalten, den Kinder ab dem Alter von 2 Monaten erhalten (zusammen mit Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Haemophilus influenzae Typ B und Hepatitis B). So wird sichergestellt, dass schon früh im Leben ein guter Schutz vor der Erkrankung vorhanden ist. Die zweite Impfung erfolgt im Alter von 4 Monaten, zwischen den einzelnen Dosen der Grundimmunisierung ist ein Zeitabstand von mindestens zwei Monaten einzuhalten, die dritte erfolgt im Alter von 11 Monaten und frühestens 6 Monate nach der letzten Dosis der Grundimmunisierung. Im Alter von 9 bis 16 Jahren erfolgt eine Auffrischung. Eine Auffrischung im Erwachsenenalter benötigt nur, wer in ein Land reist, in dem Polio vorkommt.
Denn auch wenn es in Deutschland und Europa schon lange keine Poliofälle mehr gab, so gibt es einige Länder, in denen das Virus noch vorkommt. Dazu gehören u.a. Afghanistan, Pakistan, Nigeria, Tadschikistan, Kongo, Äthiopien, Somalia und andere afrikanische Länder. Obwohl die Zahl der Polioerkrankungen weltweit zurückgegangen ist, können Polioviren durch international Reisende oder Einwanderer wieder nach Europa und Deutschland gelangen.
Im Jahr 2024 wurden in Abwasserproben mehrerer deutscher Städte poliovirus-haltige Rückstände aus Schluckimpfstoffen nachgewiesen, somit bleibt die Polio-Impfung nach wie vor von großer Bedeutung. Wäre die Anzahl der durch die Impfung geschützten Kinder gering, könnte sich das Virus hier wieder ausbreiten. So geschah es beispielsweise 2015 in der Ukraine. Weil es an Impfstoff mangelt, betrug die Impfquote bei Kindern unter einem Jahr nur 14,1%.
Im Alter von 12 Monaten verfügen fast 80 % der Kinder in Deutschland noch nicht über einen vollständigen Polio-Impfschutz, obwohl die Grundimmunisierung zu diesem Zeitpunkt gemäß den STIKO-Empfehlungen bereits abgeschlossen sein sollte. Bis zum Zeitpunkt der Einschulung liegt die Impfquote bei 88%.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das Ziel, das Poliovirus weltweit zu eliminieren. Dazu müssen regelmäßige Ausbrüche des Virus kontrolliert werden und – vor allem – die Bevölkerung flächendeckend geimpft sein. Das stellt in weniger entwickelten Ländern oder in Kriegsgebieten eine große Schwierigkeit dar. Dass es dennoch möglich ist, ein Virus komplett auszurotten, wurde anhand der Pocken gezeigt. Nur durch die Impfung wurde erreicht, dass das Virus keinen Wirt mehr finden konnte, in dem es sich vermehren kann. Hoffen wir, dass das mit weiteren Viren – Polio und Masern – ebenfalls gelingt!